Pilgerwege haben immer Platz für Gefühle
Lange Etappen durch ruhige Landschaften bilden den besten Nährboden für eigene Gefühle.
Was in der Hektik des Alltags einfach nicht mehr hineinpasst, sind die selbst gelebten Gefühle. Den gesellschaftlichen Konventionen folgend zeigen wir wohl Freude, Bedauern, Trauer oder Humor, ohne dass wir diese Gefühle auch innerlich verarbeiten. Man erwartet von uns, dass wir die Gefühle der Andern aufgreifen und uns anschliessen. Das effektvoll zu zeigen, haben wir von klein auf gelernt.
Ein Pilgerweg verschafft uns aber jetzt den Freiraum, um eigene Gefühle langsam wachsen zu lassen. Sie kommen nicht auf Kommando und sie fallen meist nicht so aus, wie wir das eigentlich erwartet haben. Plötzlich fühlt man sich von den eigenen Gefühlen überwältigt. Man zeigt sie nach aussen, weil man ohnehin allein unterwegs ist, oder man geniesst sie ganz für sich selbst, ohne dass jemand das bemerkt.
Einige Studenten haben einmal ausgewertet, wie viele Pilger auf den letzten Treppenstufen zur Praca Obradorio vor der Kathedrale von Santiago de Compostela von ihren Gefühlen berührt werden. Bei Frauen ist das überwiegend sofort erkennbar, denn sie wischen sich Tränen des Glücks aus den Augen. Die Männer zeigen das weniger deutlich, doch der sich verändernde Gesichtsausdruck verrät viel. Es ist das Glücksgefühl, wenn man nach vielen Strapazen endlich das Ziel erreicht hat.
Vielleicht war es aber nicht ein überwältigendes Glücksgefühl, sondern die Dudelsackmelodie, welche im Durchgang meist gespielt wird.
Die Erinnerungen an tief erlebte Gefühle unterwegs gehören zu den bleibenden Werten eines Pilgerwegs.
